Sex ist ein natürlicher Teil der Gesellschaft, jedoch wird die Sexualerziehung oft als mangelhaft empfunden. Davon sind Menschen ihr ganzes Leben lang betroffen, besonders aber junge Menschen, die experimentieren und ihre ersten sexuellen Erfahrungen machen. Lilan, eine Studentin der Erziehungswissenschaften am University College London, stellt diesen Diskurs auf den Kopf. Sie ist der Meinung, dass es bei der Sexualerziehung nicht darum geht, harte Fakten zu vermitteln, sondern dass Sexualerziehung ein Gespräch sein sollte. Das von ihr organisierte Projekt b.zine, ein Zine über sexuelle Gesundheit und Erfahrungen, stellt dies in den Vordergrund.
Stelle dich bitte kurz unseren Leser:innen vor. Wer bist du und was ist b.zine?
Ich heiße Lilian und bin Studentin, aber auch eine angehende Sexualpädagogin und eine kreative Denkerin. Meine größte Leidenschaft ist es, diese Dinge miteinander zu verbinden, daher stehen Bildung und Kreativität im Mittelpunkt meiner Projekte. Das ist ein interessanter Weg, die Sexualerziehung neu zu kalibrieren, denn normalerweise ist sie sehr reglementiert. Es ist nur eine Liste von Fakten, die den jungen Menschen eingetrichtert wird. Und dann werden sie in die weite Welt hinausgeschickt, um es selbst herauszufinden. Aber ich habe festgestellt, dass eine Mischung aus all dem und Kreativität ein wirklich cooler Weg ist, um Sexualerziehung neu zu definieren. Daraus ist mein Projekt b.zine entstanden.
Wie bist du zum Thema Sexualerziehung gekommen?
Als ich sechzehn war, machte ich meine ersten sexuellen Erfahrungen und merkte schnell, wie unvorbereitet ich war. Ich war völlig blind, hatte keine institutionelle Unterstützung und keine Informationen darüber, wie ich mich in dieser aufregenden, aber erschreckenden neuen Welt zurechtfinden sollte. Mir fehlte nicht nur das Bewusstsein für die Risiken, sondern auch für das Vergnügen und die Schönheit, nach der ich suchen sollte. Es ging dennoch gut aus: Ich hatte das Glück, diese Erfahrungen mit wirklich netten, guten Personen zu machen. Aber viele Menschen befinden sich in der gleichen Situation und müssen sich durchtasten. Das brachte mich auf den Gedanken: Warum spricht niemand darüber? Warum gibt es diesen Dialog nicht – einen Bildungsdialog, aber auch einen sozialen Dialog? Von da an habe ich mich sehr für das Thema interessiert und recherchiert. Ich las Bücher über Sexualerziehung, aber auch über Feminismus, Kultur und Gemeinschaft sowie über LGBTQ+-Erfahrungen.
Ein weiterer Katalysator für meine Leidenschaft: Ich habe mich mit 17 oder 18 Jahren als queer geoutet. Damals fühlte ich mich wirklich isoliert. In der Schule oder im öffentlichen Diskurs gab es keinen Dialog über die Normalität meiner Sexualität. Ich fühlte mich sehr verwirrt und hin- und hergerissen und wurde ständig von verschiedenen Seiten abgewertet. Deshalb wollte ich etwas schaffen, das einen Raum für autonome Stimmen bietet, damit junge queere Menschen sich zu Wort melden und ihre eigenen Geschichten erzählen können. Meine Sexualität, in all ihren Definitionen, hat meine Leidenschaft für diese Aufgabe geweckt.
Welche Art von Arbeit machst du bei deiner Freiwilligenarbeit?
Seit ich achtzehn bin, gehe ich in diese Klinik, das Brandon Centre. Es deckt sowohl die sexuelle als auch die psychische Gesundheit ab, und ich denke, dass die Überschneidung dort wirklich wichtig ist. Als ich mit b.zine anfing, habe ich mich an sie gewandt, um zu sehen, ob sie mir helfen würden. Sie nahmen mich auf und unterstützen mich als Mentor:innen. Sie orientieren sich sehr an jungen Menschen und stellen unsere Stimmen in den Mittelpunkt. Ich habe mit ihnen zusammengearbeitet, um einen Jugendvorstand zu entwickeln. Dieser ermöglicht es jungen Menschen, Einfluss auf die Leitung der Organisation zu nehmen.
Wir führten auch Fokusgruppen mit jungen Menschen durch, welche die Dienste der Klinik in Anspruch genommen hatten, um ein Feedback zur Arbeit der Klinik zu erhalten. Ich wollte insbesondere LGBTQ+-Personen und ihre Erfahrungen in Kliniken für sexuelle Gesundheit befragen. Wir stellten fest, dass das Personal viele Annahmen, wie z.B. über das Geschlecht der Patienten und die Sex-Partner-Auswahl, trifft. Insgesamt werden die Erfahrungen von Cis-gender, heterosexuellen Menschen wie erwartet behandelt. Wir konnten den Verantwortlichen der Kliniken in der Region ein Feedback zu unseren Erkenntnissen geben, sodass sie auf der Grundlage der Informationen Maßnahmen ergreifen konnten. In diesem Jahr wollen wir die Art unserer Kampagne ändern und die Reichweite über soziale Medien oder Plakate und Flugblätter erhöhen.
Kannst du uns etwas über b.zine erzählen?
b.zine ist ein Zine über Sexualität, sexuelle Gesundheit und sexuelle Identität. Aber es ist keine Sexualerziehung im herkömmlichen Sinne. Wie ich bereits erwähnt habe, sehe ich das Problem der institutionalisierten Sexualerziehung in der bloßen Vermittlung von Fakten. Ich wollte es so angehen, wie sie es im Brandon Centre angehen: Jede Person im Raum ist sowohl Lehrender als auch Lernender. Jeder verfügt über gültiges und mächtiges Wissen über seine eigenen Erfahrungen, aber niemand weiß alles, was es zu wissen gibt. Es geht also viel mehr um den Dialog als um das Lehren. Es wurde nicht darauf zugeschnitten, politisch korrekt zu sein oder Fragen der sexuellen Gesundheit zu umschleichen.
Ich habe Printmedien, Kunst und Kreativität schon immer geliebt. Einfach greifbare Dinge, die man in den Händen halten und mit denen man sich verbinden kann. Mit sechzehn Jahren träumte ich davon, ein Zine zum Thema sexuelle Gesundheit zu erstellen. Zines sind eine großartige Möglichkeit, mediale Erzeugnisse zugänglich und billig zu produzieren. Sie sind eine antiautoritäre, antinormative Form, die neue Ideen verbreitet, ohne dass sie von Institutionen wie Verlagen genehmigt werden müssen.
Wir drucken sie selbst und verbreiten sie selbst. Diese Unverfälschtheit hat mich schon sehr inspiriert. Als Covid-19 aufkam und meine Arbeit für die Universität abgesagt wurde, war ich gelangweilt. Ich bin jemand, der immer ein Projekt braucht, an dem sie arbeiten kann. Deshalb habe ich b.zine meinem Freiwilligendienst an der Universität vorgeschlagen, eine Finanzierung erhalten, ein Team zusammengestellt und es zum Laufen gebracht.
Was beinhaltete die Arbeit an b.zine?
Da ich die Gründerin des Projekts war, gehörte am Anfang alles dazu. In den ersten paaren Monaten habe ich alle Aufgaben übernommen: Projektmanagerin, Social-Media-Managerin, Wohlfühlmonitor. All diese verschiedenen Bereiche musste ich jonglieren. Das bedeutete viel Planung, viele Formulare und viel Budgetierung. Eine Zeit lang habe ich mich an Schulen und Kliniken gewandt, um Unterstützung zu finden, damit ich auch von ihnen lernen konnte. Dann ging es darum, die Leute zu koordinieren, dafür zu sorgen, dass die Arbeit erledigt wird und alle Spaß haben. Es gab viele Treffen und Gespräche über unsere Pläne für das Projekt. Im ersten Jahr ging es also nur um organisatorische Dinge, die ich mit meiner Freundin Zoe arrangierte.
Danach haben wir auch Workshops entworfen, was mir am besten gefallen hat. Wir holten Leute, um die Workshops zu gestalten, und stellten sicher, dass sie unser zentrales Ethos der Koproduktion statt des Unterrichts widerspiegelten. Dabei habe ich viel über Management gelernt, was ich vorher noch nie gemacht hatte. In dieser Hinsicht war es sehr kreativ: Ich habe versucht, etwas von Grund auf zum Leben zu erwecken.
Warum hast du die Kunst als Medium für deine Sexualerziehung gewählt?
Sie ist sehr subjektiv. Ich bin der Meinung, dass bei Sexualität und Intimität Subjektivität der Schlüssel ist. Die persönlichen Erfahrungen, die Erfahrungen mit verschiedenen Menschen und wie sich der Körper im Laufe des Lebens verändert, sind alle sehr unterschiedlich. Ich wollte die Art und Weise hinterfragen, wie wir in der Bildung normativ über Sex sprechen, und die Verallgemeinerungen über homo- oder heterosexuellen Sex untersuchen. Junge Menschen können auch älteren Generationen eine Menge über Sex und darüber, was es bedeutet, im eigenen Körper zu leben, beibringen. Jeder hat seine ganz eigene Geschichte, und um mich gegen diese Verallgemeinerungen zu wehren, wollte ich die Menschen diese erzählen lassen. Die Kunst war eine gute Möglichkeit, das zu tun. In der Kunst gibt es keine Regeln, keine richtige oder falsche Art, etwas zu sagen. Ich wollte die Geschichten von niemandem vermitteln oder sie in eine Schublade stecken.
Welche Auswirkungen wird es deiner Meinung nach haben? Welche Wirkung würdest du dich wünschen?
Die meisten Menschen denken heutzutage, dass etwas nur dann Beachtung findet, wenn es Geld einbringt. Es muss weit verbreitet sein. Ich wollte vermeiden, in diese Falle zu tappen. Das kann giftig und schädlich sein, wenn man seinen eigenen Erfolg misst, insbesondere bei kreativen Unternehmungen. Die Wirkung wäre für mich zufriedenstellend, egal ob es einer Person hilft oder fünfhundert. Wenn eine Person zu mir kommt und sagt: „Es war schön, das zu lesen“, dann ist das genug. Zum Zeitpunkt dieses Interview haben wir das Buch noch nicht einmal vollständig verteilt, aber die Wirkung war bereits wunderbar. Allein innerhalb des Teams ist die Atmosphäre, die wir geschaffen haben, fantastisch. Die Leute habe ihre Ideen über ihren eigenen Körper, ihre Partner:innen und ihre Sexualität entwickelt und darüber nachgedacht, was sie in Zukunft tun wollen.
Wie wichtig ist deiner Meinung nach Sexualerziehung für Selbstliebe und Selbstverwirklichung?
Zu Beginn meines Studiums, dachte ich, dass Sexualerziehung alles in unserer Kultur heilen würde. Aber seit ich Erziehungswissenschaften studiere, habe ich ein besseres Verständnis für die Grenzen der Erziehung entwickelt. Ich möchte nicht in die Falle des „Bildungsevangeliums“ tappen, in der Bildung als die universelle Lösung angesehen wird. Sie ist eine mächtige Sache, aber wir sollten anerkennen, dass es auch andere Möglichkeiten wie z.B. menschliche Beziehungen gibt, die Veränderungen herbeiführen.
Sexualerziehung kann einen massiven Einfluss auf Selbstliebe und Selbstdarstellung haben. Das ist unglaublich wichtig. Aber wir können unsere Beziehungen zu uns selbst, zu unserer Sexualität und zu unserem Vergnügen auch außerhalb der Grenzen von Institutionen verbessern. Wir können diese Diskussionen und Diskurse auch in der Kultur und der breiteren Gesellschaft führen. Das versuche ich immer noch herauszufinden. Aber Bildung ist nur der Anfang! Sie ist ein wichtiger Teil der Reformierung unserer Beziehungen zu unseren Körpern, aber sie ist immer noch ein Teil, nicht das Ganze.
Wie würdest du deinen bisherigen Weg in der Sexualerziehung beschreiben?
Obwohl ich mit einer starren Vorstellung von Sexualerziehung begann, hat mir mein Weg eine völlig andere Sichtweise vermittelt. Es ging darum, mich selbst zu verstehen und meine Voreingenommenheit und meine Gedanken zu hinterfragen. Zu lernen, Dinge nie als selbstverständlich anzusehen. Niemals unkritisch gegenüber Ideen und Annahmen zu sein. Ich habe eine aufregende neue Art des Denkens gelernt, mit einem neuen Verständnis für die Bedeutung der Sexualerziehung. Das hat sich auf meine eigene Beziehung zu meinem Körper ausgewirkt, wofür ich sehr dankbar bin.
Hast du Pläne für zukünftige Projekte?
Mit b.zine weitermachen. Es läuft auch weiterhin, obwohl ich einen Schritt zurück gemacht habe, um mich um mich selbst zu kümmern. Ich möchte diesen Faden der Kreativität und des Überdenkens von Bildungsbeziehungen weiterführen und mich selbst mit kreativem Schreiben beschäftigen. Ein weiteres Zine-Projekt, an dem ich beteiligt war, ist ein Projekt in Zusammenarbeit mit dem Flüchtlingsrat zum Thema Flüchtlinge. Auch dazu wollte ich eine Diskussion anregen. Außerdem habe ich vor kurzem einen Job im Brandon Centre als Mentorin für junge Menschen bekommen. Das alles war eine tolle Erfahrung, und ich freue mich darauf, sie fortzusetzten. Ich möchte das, was ich tue, auf neue Art und Weise fortführen.