Unausgesprochene Realitäten auf der Reise zur Fruchtbarkeit

Ihr könnt kein Baby haben? Das ist ein Frauenproblem! Vorsicht bei solchen Aussagen, denn sie sind nicht (immer) wahr! Es ist einer der häufigen Fehler, wenn man über Unfruchtbarkeit spricht. Aber lass uns einen genaueren Blick darauf werfen, was hinter diesen gesellschaftlichen Normen und Erwartungen für Paare steckt! Dr. Michelle erzählt uns von den psychischen und physischen Problemen auf der Reise zur Fruchtbarkeit:

Der Begriff Fruchtbarkeit hat sich heute in etwas verwandelt, das in Scham gehüllt ist. Es ist ein Thema, über das oft nur leise geflüstert wird und das mit viel Stress und Ängsten verbunden ist. Etwa 15 % der Paare auf der ganzen Welt leiden an Unfruchtbarkeit. Das sind Millionen! Worüber aber nicht gesprochen wird, sind die psychischen und physischen Facetten der Paare auf der Reise zur Fruchtbarkeit. Wenn man sich mit dem Thema Unfruchtbarkeit beschäftigt, denkt man oft nur an die Methoden zur Wiederherstellung der Fruchtbarkeit. Weniger diskutiert ist jedoch die erdrückende Last, die Unfruchtbarkeit auf Beziehungen und Individuen hat, da deren Wert von der Gesellschaft oft auf ihre Fähigkeit zur Fortpflanzung reduziert wird. 

Das Dilemma der Unfruchtbarkeit zwischen Mann und Frau

Fruchtbarkeit wird oft als der Kampf einer menstruierenden Person um eine Schwangerschaft dargestellt. Das ist auf die Verbindung zwischen der Gebärmutter und dem Baby zurückzuführen. In vielen Teilen der Welt, insbesondere in ländlichen Gebieten, werden Menstruierende jahrelang strengen Tests und Therapien unterzogen. Das geschieht ohne eine mögliche Ursache von Menschen ohne Uterus in Betracht zu ziehen. Und das erfolgt vor allem deshalb, weil die gesellschaftlichen Normen die Möglichkeit einer Unfähigkeit der Nicht-Menstruierenden nicht zulassen. Die CDC weist jedoch darauf hin, dass bei unfruchtbaren Paaren neben dem weiblichen Faktor zu 35 % auch ein männlicher Faktor vorhanden ist. Dabei tragen mehrere Ursachen zur Fruchtbarkeit von Menschen ohne Uterus bei. Dazu gehören die allgemeine Gesundheit und das Wohlbefinden, die Qualität und Quantität von Sperma und Spermien, Medikamente, Grunderkrankungen und sogar die psychische Gesundheit.

Bei Menstruierenden gibt es viel mehr Aspekte bei der Diagnose der Unfruchtbarkeit. In der Regel wird eine umfassende Untersuchung der Fortpflanzungsorgane, der Hormone, der zugrunde liegenden Erkrankungen, der Medikamente sowie der Faktoren des Lebensstils durchgeführt. Auch wenn wir uns der gleichen Möglichkeit bewusst sind, ist die psychologische Belastung bei menstruierenden Menschen mit Kinderwunsch höher. Die therapeutischen Maßnahmen zielen deswegen weitgehend auf das Fortpflanzungssystem der Menschen mit Uterus ab, um ihre Chancen auf eine Schwangerschaft zu erhöhen. Und ein fehlgeschlagener Versuch wird beiseitegeschoben, ohne die Auswirkungen zu untersuchen, die er möglicherweise auf die menstruierende Person und das Paar gehabt haben könnte. 

Erforschung des psychologischen Aspekts der Unfruchtbarkeit

Jahrzehntelang war die Vollkommenheit einer menstruierenden Person eng mit ihrer Fähigkeit des Kindergebärens verbunden. Aus diesem Grund fühlt sich eine Person mit Gebärmutter, die nicht in der Lage ist, Kinder zu gebären, oft unzulänglich oder in ihrem Lebensziel gescheitert. Auf der anderen Seite zweifelt die Person ohne Uterus aufgrund der eigenen Unfähigkeit, die/den Partner:in zu schwängern, die eigene „Männlichkeit“ an. Zwar sind beide Partner häufig von einem ähnlichen Umstand betroffen, doch wird kaum ein Weg zum Dialog gesucht. Das ist darauf zurückzuführen, dass es im Ökosystem der Fruchtbarkeit nur wenige Möglichkeiten für Gespräche über psychische Gesundheit gibt. Dabei führt die Unfruchtbarkeit zu einer großen Belastung innerhalb der Beziehung.

Stress und Ängste verringern zusätzlich die Chancen auf eine Empfängnis. Bekannt ist auch, dass nicht behandelte psychische Probleme die physischen Funktionen des Körpers wie die Regulierung der Hormone und des Stoffwechsels beeinträchtigen. Außerdem sind in den wenigen Studien zum Thema Fruchtbarkeit und psychische Gesundheit häufig Frauen die Kandidat:innen. In den Studien, die zur psychischen Gesundheit von Männern durchgeführt wurden, wird bei Unfruchtbarkeit eine erhebliche Zunahme von Angstzuständen beobachtet. Die Auswirkungen auf die Beziehungen sind wahrscheinlich die am wenigsten untersuchte Dimension auf der Reise zur Fruchtbarkeit.

Veränderungen, welche die Reise zur Fruchtbarkeit braucht

Unfruchtbarkeit nicht nur als körperliches Hindernis zu sehen, wird von der WHO als ein grundlegendes Menschenrecht hervorgehoben. Es ist notwendig, Paare als Individuen zu betrachten, die über den Bereich der Fortpflanzungsmaschinen hinausgehen. Während die psychische Gesundheit heterosexueller Paare derzeit kaum erforscht wird, kann man davon ausgehen, dass die Probleme älterer Paare, LGBTQ*-Paare, Paare mit Beeinträchtigungen, Beziehungen aus mehreren Partner:innen, von Leihmüttern und sogar von Menschen, die alleinerziehend sein wollen, nicht einmal auf dem Radar sind. Doch einige wenige Studien haben auch einen positiven Einfluss auf die psychologischen Bedürfnisse von Frauen auf ihrer Reise zur Fruchtbarkeit dokumentiert. Darüber hinaus profitieren Paare, die sich mit ihren Fruchtbarkeitsproblemen auseinandersetzen, enorm von der Beratung, was die Schwangerschaftsraten erhöht.

Es gibt so viele Bedenken, die beim Umgang mit der Fruchtbarkeit nur selten geäußert werden. Im Blick ist immer nur die Ziellinie: das Baby. Das hat wiederum die Freude gedämpft, die Paare bei der Familiengründung empfinden. Die Bindung geht durch eine Flut von medizinischen Tests, fehlgeschlagene IVF-Zyklen und den gesellschaftlichen Druck, sich fortzupflanzen, verloren. Was kann also dabei helfen? Das System, das zur Bewältigung der Fruchtbarkeit geschaffen wurde, sollte in die Pflege des Einzelnen und seiner Bedürfnisse investieren. Das bedeutet, dass Paare das Gefühl haben sollten, dass sie immer die Wahl haben, ob sie ein Kind haben wollen oder nicht. Es darf zu keinem Zeitpunkt der Eindruck entstehen, dass sie versagt haben. Außerdem müssen die Paare ermutigt werden, ihre Beziehung durch den Prozess zu pflegen, und es sollte ihnen mehr Bedeutung beigemessen werden als ihrem Bedürfnis nach Kindern.

Hast du mit Unfruchtbarkeit zu kämpfen oder hast du eine Meinung zu diesem Thema? Erzähle uns in den Kommentaren von deinen Gedanken, Problemen und deinem Weg zur Fruchtbarkeit!

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November 15, 2021
Dr. Michelle Frank ist eine Gesundheitsberaterin, die sich für den Aufbau sicherer digitaler Online-Gesundheitsgemeinschaften für Frauen einsetzt. Derzeit ist sie Direktorin für Gesundheit und Wellness bei Naima , einem Online-Schwangerschaftsökosystem für Frauen. Sie wohnt in Indien und erkundet verschiedene Städte und Möglichkeiten, die sich ihr bieten. Besucht gerne den #MyHealthChat, den sie jeden zweiten Donnerstag auf Twitter mitveranstaltet. | Instagram | LinkedIn

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