«Ist die Vulva überhaupt noch ein Tabu»? Ich sitze in meinem Wohnzimmer, hinter mir thronen drei selbst gemalte Bilder von Vulven an der Wand. Mir gegenüber sitzt eine Journalistin*, die mir diese Frage stellt. Ich zögere, denke nach und komme zu einem klaren «Ja, das Thema Vulva ist (noch) ein Tabu». Weniger in meiner Wohnung, weniger auf meinem Instagram-Account, wo sich zahlreiche Vulva-Künstler*innen tummeln, weniger in meinem Freundeskreis, weniger in meiner auf Vulven sensibilisierten «Blase». Aber meiner Meinung nach im breiten gesellschaftlichen Diskurs, ja.
Die Vulva: mysteriös und schambehaftet
Diese Tabuisierung beeinflusst auch mich. Obwohl ich mich oft und vertieft mit Thematiken rund um die Vulva auseinandersetze, ist der Dialog darüber manchmal noch mit Hemmungen verbunden. Also, warum können wir mit unseren Vorgesetzten* nicht in derselben Weise über die Vulva und die Menstruation reden wie über die Nase und das Nasenbluten? Wieso ist es uns peinlich, mit unseren Freund*innen über Scheidenpilz zu reden? Warum sagen wir Möse, Muschi und Ähnliches, um die Vulva zu verniedlichen, wenn wir das bei anderen Körperteilen, wie zum Beispiel den Beinen oder den Ohren, auch nicht machen? Meine Antwort: Weil die Vulva immer noch von einem mysteriösen Tabu und zugleich von Scham und Hemmungen umhüllt ist.
Über die Vulva und Dinge, die damit zusammenhängen, wie zum Beispiel Sexualität oder Menstruation, kann nicht überall und immer gleich offen gesprochen werden. Wenn diese Aspekte thematisiert werden, dann oft auf eine beschönigende, idealisierte Weise. Die Vulva soll einem bestimmten Schönheitsideal entsprechen. Die Menstruation muss unsichtbar sein und gut riechen. Dies kreiert und verstärkt Scham und Hemmungen, weil es gar nicht möglich ist, diese Ideale zu erfüllen. Alle Vulven sind unterschiedlich und die Menstruation riecht nicht nach Rosen. Das ist in Ordnung. Die Diversität ist die Norm.
Eine Norm, die es nicht geben sollte
Leider wird dies in den Medien und in Pornos nicht so dargestellt. Dies verursacht Schamgefühle, welche zusammen mit den Hemmungen, über vulva-bezogene Themen zu sprechen, zu beträchtlichem Leid führen können. So schreibt Hilde Atalanta (2019, S.20) in ihrem Buch «A Celebration of Vulva Diversity», dass sich Menschen mit «nicht normativen» Vulven unwohl fühlen, Sex als stressig empfinden und ein niedrigeres Selbstbewusstsein haben können. Dies kann dazu führen, dass sich diese Menschen potenziell gefährlicheren sexuellen Situationen, wie ungeschütztem Geschlechtsverkehr, aussetzen. Das alles aufgrund eines Ablehnens der eigenen Vulva, weil sie nicht der Norm entspricht – eine Norm, die es eigentlich gar nicht geben sollte.
Wie tiefgreifend Schamgefühle über die eigene Vulva sind, zeigen die Zahlen der Eingriffe in der plastischen Chirurgie. Anne Kreklau et al. (2018) erwähnen in ihrer Studie «Measurements of a ‘normal vulva’ in women aged 15–84: a cross-sectional prospective single-centre study», dass sich immer mehr Menschen einer Vulvalippenverkleinerung unterziehen, weil sie sich von vorherrschenden Schönheitsidealen unter Druck gesetzt fühlen.
Sprache gegen Tabus
Was können wir tun, um diese Scham und Hemmungen abzubauen? Wie kann die Vulva enttabuisiert werden? Wie können wir für die Diversität der Vulven sensibilisieren? Diese Fragen beschäftigen mich schon länger. Eine Antwort betrifft meiner Meinung nach die Sprache bzw. das Benennen. Wenn wir lernen, die korrekte anatomische Sprache gleich auf die Genitalien wie auf andere Körperteile anzuwenden, können wir das Thema normalisieren. Sich über ein gebrochenes Bein, eine juckende Nase oder eine schmerzende Vulva zu beklagen, ist dann gleichermaßen schamfrei möglich.
Vulva-Kunst als Gegenmittel
Eine weitere Antwort auf die obigen Fragen habe ich in der Kunst gefunden. Der Vulva-Kunst. Im Sommer 2019 habe ich angefangen Vulven zu malen. Im Frühling 2020 entstand daraus «Vulveria», mein Vulva-Kunstprojekt, welches neben der Enttabuisierung und Sensibilisierung für das Thema auch Geld sammelt, um feministische Projekte zu unterstützen. Meine Vulven sind groß, klein, farbig, goldig, schwarz-weiß, rund, eckig und zeigen so Diversität auf. Sie sind abstrakt und spielerisch, was sie für mich zugänglicher macht. Ich glaube, dass durch das Abbilden der Vulva ein Bewusstsein für dieses tabuisierte Thema geschaffen wird.
Viele Menschen sind von den Farben fasziniert, sehen in den Bildern Blumen oder sogar Fahrradhelme. Wenn sie erfahren, dass es sich bei den Bildern um Vulven handelt, sind die meisten überrascht, peinlich berührt oder hellauf begeistert. Die erste Faszination hilft, sich auf das Thema einzulassen. Neben der Abbildung eines schönen, diversen Motives haben die Bilder also die Macht, den Dialog zu fördern. Seit ich angefangen habe, Vulven zu malen, habe ich unzählige Gespräche zu dieser Thematik geführt. Es hat mir geholfen, meine eigenen Schamgefühle zu erkennen und aktiv zu überwinden. Zuerst, indem ich meine Zeit und Energie dem Thema gewidmet habe: Wie stehe ich zu meiner Vulva? Wie sieht sie genau aus? Schäme ich mich dafür und wieso?
Photo Credits: Dunja
Durch Vulva-Kunst zum Dialog
Zudem begann ich mich mit anderen Vulva-Künstler*innen auseinanderzusetzen und merkte schnell, dass sie ebenfalls Diversität zeigen wollen sowie Scham und Hemmungen abzubauen versuchen. Meine eigene Scham schwand von Vulva zu Vulva, welche ich sah. Ich verabschiedete mich schnell von der angeblichen “Idealvulva” und Diversität wurde meine Norm. Darauf folgten viele Gespräche mit Freund*innen, aber auch mit meinen Eltern, ja sogar mit Menschen auf der Arbeit.
Startpunkt war immer meine Vulva-Kunst. Dies hat mir gezeigt: Kunst bietet eine Möglichkeit zur Auseinandersetzung, zum Austausch und dient der Sensibilisierung und der Visualisierung, ja vielleicht sogar der allmählichen Normalisierung. Ich erhalte mittlerweile regelmäßig Fotos von Vulven, die mein Umfeld in ihrem Alltag in Früchten, Bäumen oder Gesteinen erkennen. Das zeigt mir: Sie haben sich diesem Thema geöffnet und es ist für sie präsenter. Sie schauen bewusst hin und nicht beschämt weg. Dieses Hinschauen ist ein kleiner Schritt hin zu weniger Tabuisierung. Wenn das Hinsehen jedoch Menschen helfen kann, sich wohler und sicherer zu fühlen, ist es ein großer Schritt hin zu mehr Wohlbefinden sowie körperlicher und psychischer Freiheit.
Vulva-Kunst: Let’s draw vulvas!
Meine Vulva-Kunst hat mir gezeigt: Kleine Aktionen können viel bewirken. Die Chance, im eigenen Umfeld und darüber hinaus, zum Nachdenken anzuregen, ist real. Es braucht Menschen, die sich dem Thema bewusst zuwenden. Personen, die anstrengende, nervenaufreibende Gespräche führen. Gespräche, in denen sie sich für ihre Enttabuisierungsarbeit erklären müssen. Jede Erklärung kann eine Öffnung zu mehr Interesse, mehr Toleranz und weniger Scham und weniger Hemmungen bedeuten. Es braucht Menschen, die mit Begeisterung kreative Wege suchen und spielerisch sensibilisieren. Hast du bereits einmal eine Vulva gezeichnet? Hast du schon einmal mit deinen Eltern oder deinen Vorgesetzten* über die Vulva gesprochen?
Ich ermutige dich, die Auseinandersetzung zu wagen und wünsche mir einen offeneren Dialog zum Thema Vulva und dass die Diversität ins Bewusstsein aller Menschen rückt und so normalisiert wird. Ich wünsche mir, dass Vulven kein Gender mehr haben, also nicht automatisch weiblich konnotiert werden. Eine solche Wahrnehmung kann diskriminierend sein, da es viele Menschen mit Vulven gibt, die sich nicht als Frau identifizieren, wie zum Beispiel non-binäre Personen oder Transmänner.
Um auf die Tabufrage vom Anfang zurückzukommen: Ja, die Vulva ist noch ein Tabu, aber kein unantastbares. Wir können sie abbilden, benennen und feiern und auf diese Weise sensibilisieren und normalisieren. Wetten, dass es dadurch bald nicht mehr unangenehm sein wird, öffentlich über die Vulva oder die Menstruation zu reden? Also, let’s paint vulvas!